mwaka mzima kweli? Echt ein ganzes Jahr weiter?

mwaka mzima kweli? Echt ein ganzes Jahr weiter?

17. Oktober 2024 1 Von Carmikahindo

es ist schon echt krass, vor einem Jahr bin ich aufgebrochen nach Tansania, in die weite Fremde und habe Euch mitgenommen auf eine Reise, in der ich die fremde und die eigene Fremdheit erkundet habe und vieles entdeckt habe, was mich sehr stark in den Flow des Lebens geschubst hat.

die Erzählungen und Bilder enden Anfang Februar und mir war die ganze Zeit klar, dass es noch jede Menge unerzählte Geschichten gäbe. Doch weil ich wieder in meinen Alltag eingestiegen bin und natürlich die Arbeit und die alltäglichen Verpflichtungen immer wichtiger waren, habe ich das nie gemacht. Dabei ist gerade die Zeit im Osten des Kongo nochmal eine ganz andere Facette meiner Reise geworden. ich war sehr offiziell als Pastorin auf Kirchenbesuch. ich war als „Wahl-Nichte“ zu Gast bei meinem kongolesischen Onkel Kakule und seiner Frau Tante Yuka. Die beiden kennen mich seit meinen Studienanfangszeiten in Wuppertal und haben mich schon damals in ihrer Familie willkommen geheißen. nun leben sie nach vielen Jahren in den unterschiedlichsten Jobs und Aufgaben ihren Ruhestand hauptsächlich in Goma, wo ich von 1995-1996 ein damals noch „missionarisch diakonisches Jahr“ mit der VEM (Vereinte evangelische Mission) in der Frauenabteilung der Baptistischen Kirche im Kivu (damals CBK, heute CBCA, baptistische Kirche im Zentrum Afrikas) verbracht habe.

ich war gute Freundin, Teil eines schwarz weißen ungleich alten „Zwillingspärchens“ und auch offizielle Gästin der Kirche. ich habe mich mit den Theologinnen der Kirche getroffen, die trotz gleicher Ausbildung und viel Engagement in der CBCA noch nicht als Pfarrerinnen ordiniert werden, aber häufig als Seelsorgerinnen intensive Arbeit mit den vielen kriegstraumatisierten Frauen und Jugendlichen im osten des Kongo machen und dabei selten Entlastung erfahren. ich habe Projekte besucht, wo Bildung und Hoffnung vermittelt wird, damit junge Menschen eine Zukunftsperspektive bekommen. und das alles in einem Land, in dem seit 1997 (oder eigentlich sogar seit 1994, wenn man den ruandischen Genozid, die Flüchtlingsbewegungen und die militärische Präsenz in der Region zählt) kein wirklich anhaltender Frieden mehr war, sondern immer wieder von der einen oder anderen Rebellengruppe die Zivilbevölkerung terrorisiert, die Frauen vergewaltigt und verschleppt und die Dörfer angezündet wurden.

oder wo, wie derzeit, die Rebellen die Stadt Goma, die inzwischen deutlich mehr als 1 Million Einwohner hat (oder 2,5? wer kann das in dem Gewusel und mit den vielen Landesinternen Kriegsvertriebenen schon sagen) und über zwei funktionierende Straße mit Lebensmitteln aus dem Umland versorgt werden muss, immer wieder versuchen, die Stadt in die Zange zu nehmen und auszuhungern, inklusive Inflation, hoher Militärpräsenz und Tagen mit Generalstreik.

Es gibt noch so viel zu erzählen. und ich hab es bisher nicht gemacht. und wer weiß, ob ich das noch hinkriege. Denn ich bin inzwischen auf meiner nächsten großen Reise. Diesmal nicht in die Weite Welt weit weit weg, sondern in die Tiefen meines eigenen Universums.

ich befinde mich seit 10 Tagen in einer Klinik zur Behandlung meiner psychogenen Adipositas oder Fettsucht. also einer chronischen Erkrankung, die mich schon mein ganzes Leben begleitet und die ich bisher immer abwechselnd bekämpft oder ignoriert habe.

Essstörungen gibt es ja in vielerlei Form, von Anorexie über bulimie oder Binge-Eating und jede/r der damit kämpft, spürt, wie sehr der Umgang mit Essen suchthaft verändert und gestört ist.

ich habe selbst auch schon oft immer wieder an diesem Thema gearbeitet und über Selbsterfahrung, Therapie und Coaching viel über mich selbst gelernt. So viel, dass ich dachte, jetzt müsste es doch irgend wann einmal gut sein. ich kenne mich so gut, ich weiß so viel über das Woher und Wozu meines Verhaltens. Aber das alles nützt nicht wirklich, weil ich immer noch disfunktional mit Essen umgehe. Und bei 1,62 und über 130 kg mehr als doppelt so viel Gewicht mit mir rumschleppe, wie bei meiner Größe normal wäre.

da ich aber immer schon „moppelig“ und seit meinen Teenagerjahren dick bin, ist dieser Zustand mein „Normal“ mit all den Emotionalen Themen, die da dran hängen. und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es wäre „dünn“ zu sein. und ich mag mich auch Dick inzwischen ziemlich gern. Aber leider nicht genug, um endlich erwachsen mit meinem Eßverhalten umzugehen und zu lernen, wie ich mich anders reguliere als über hochkalorische Nahrung in übergroßen portionen mit einem ordentlichen Klacks Mayo dabei.

Tja, und nun bin ich aus Afrika zurück, habe in der Zeit – wohl durch die stärkere Bewegung als Fußgängerin und Dalla Dalla Nutzerin und das doch etwas andere Nahrungsangebot mehr als 10 kg verloren. Weil es mir dort die meiste Zeit saugut ging. ich glücklich war. Mit mir selbst und den Menschen verbunden. und total oft in einem sehr angenehmen „Flow“

Ja, und im Alltag zuhause waren diese zehn kilo innerhalb von nur 3 Wochen alle wieder an meinem Körper. und der beschwerte sich: die Knie hatten keinen Bock mehr, mich zu tragen. das Gewebe – vor allem im bereich der Beine und Füße – tat regelmässig übel weh und der Magen war permanent sauer.

Diese körperlichen Probleme haben in mir den Wunsch geweckt, endlich weniger schwer zu sein. Es wird ja nach den Wechseljahren nicht leichter, da etwaas zu verändern. ich möchte meinen Körper dahin einladen, wo meine Seele immer öfter weilt: in lebendiger Verbundenheit. in Freude und Kontakt, Mit mir und mit anderen. Es scheint mir, als hätte mein Körper noch nicht kapiert, dass es längst nicht mehr die entwicklungstrauma-geprägte Welt meiner Kindheit um mich rum gibt, sondern – sorry – ein über weite Teile richtig geiles Leben. mit Menschen, die ich liebe und die mich lieben. Mit Sinn und Aufgaben, die mich erfüllen. Mit Katzen und auch (Ja, sorry Olli) mit Hühnern und Garten und einem Zuhause, in dem ich glücklich bin. Oft. sogar immer öfter.

und ich habe gesucht, was ich denn brauchen könnte dazu. Mir war schnell klar, dass ich im Alltag mit allen Anforderung dieser Herausforderung erstmal nicht gewachsen bin. Dem stehen so viele Gewohnheiten, scheinbare Sachzwänge und Muster im Weg, dass ich Hilfe dabei brauche. Doch eine Abnehmtrimmquälklinik, die mich motiviert und mit Diäten quält aber den emotionalen Teil dieser Störung unter „Willensschwäche“ abtut, wär es auch nicht. Andererseits hatte ich rein psychosomatische Rehakliniken auch schon genutzt und bin regelmäßig bei dem ganz konkreten Essthema gescheitert.

Tja, aber was denn sonst? über viel Suchen und Googlen bin ich schließlich auf die Klinik am Korso in Bad Oeynhausen gestoßen, Hier werden alle Arten von Eßstörungen und ausschließlich Esstörungen, bzw. Menschen mit Essstörungen behandelt. Von 14 bis 99 (ich glaube, derzeit sind die Ältesten in den 60ern, aber ihr versteht, was ich meine.) ca 90 Patient*innen, die in großer Selbstverantwortung lernen können, wie sie ihr Leben anders gestalten und sich aus den fiesen Klauen der Ess-Sucht oder der „Nicht-Ess-Sucht“ oder welche Facette auch immer ihr leben bestimmt, befreien können. Damit sich nicht mehr so viel um dieses Thema dreht und Leben in seiner Bandbreite gelebt werden kann.

Was mich fasziniert hat, war, dass die Klinik ein Anti-Diät Konzept verfolgt, dazu Psycho- Körper- Kunst- und Ernährungstherapie. und ein der persönlichen Situation angepasstes Bewegungs- und Sportprogramm.

Das klang interessant. und ich hab gehofft, dass ich Hilfe kriege als die, die ich bin mit all den Erkenntnissen und dem Fühl- und Umsetzungsproblem. Denn ich fühle mich, als fehle nur noch ein entscheidender Schritt, damit ich mich von dieser Körperfülle verabschieden kann und die wahre Lebensfülle jenseits meiner Fettdepots wirklich selbst für mich ergreifen kann und das Afrika Flow – Gefühl auch in meinem Leben hier öfter und dauerhafter erleben kann.

Weil ich in meiner Arbeit ja aber nun gerade erst wieder da war, es einige Veränderungen zu managen gab und eine neue Situation im Team, wo ich erstmal der neuen Kollegin die Chance geben wollte, ein Bein in unserem Laden auf den Boden zu bekommen, hab ich das geplant. bin ich gut drin und mir gedacht, so im späten Herbst hab ich genug für Stabilität auf der Arbeit gesorgt und Vertretung geregelt, dass ich mal ein Paar Wochen weg kann und das Thema bearbeiten. und ich hab ja schon so viel gearbeitet, das schaff ich doch bestimmt in vier Wochen. (auf der Homepage stand was anderes, aber es ist ja spannend, wie man sich das schönreden kann) Also hab ich mein Bedürfnis „verschoben“ und erstmal die anstehenden Aufgaben erledigt, um dann möglichst sozialverträglich Krank zu sein.

Das widerrum hat mir mein Körper und meine Seele übel genommen. Keine Frustrationstoleranz so ein Körper und anscheinend auch keine Geduld. Das hat doch jetzt 52 Jahre so funktioniert, da werden die 6/7 Monate auch nicht schlimm sein. Und meine Termine plane ich so, dass ich möglichst lange meine Arbeitsverantwortung leben und für die Anderen da sein kann. Dachte ich so. Bis dann im August alle Hebel meines Systems ausgescheert haben: Schmerzen, erhöhtes disfunktionales Essen und eine Erschöpfungsdepression, und dann ging erstmal gar nichts mehr.

Und ich also mit Kostenzusage und Wartezeit dann am 07. Oktober hier angekommen bin. genau ein Jahr, nachdem ich das erste mal was in diesen Blog geschrieben habe.

und ich wäre vermutlich ohne diese Reise letztes Jahr, die mir so viel über mich gezeigt hat, nicht bereit für die Reise jetzt. in die Fremde in mir.

Mit dem Ziel einer mir fremden Welt, in der Essen einfach Nahrung ist. Und das Was man wie genau ißt und zubereitet, vielleicht allenfalls die schönste Nebensache der Welt. und ich frag mich, wer ich dann wohl bin, wenn dieser irre Dauerfokus auf das Essen weg ist. Die Reise hat schon begonnen.

und ich hab mir gedacht, vielleicht nehm ich Euch wieder ein wenig mit. Tuende Kigeni – lasst uns in die Fremde gehen. ich weiß noch nicht, was ich teilen kann und werde von meinem Prozess, weil ich Angst habe, dass das Aufschreiben auch wieder ins Muster rutscht und ich etwas ausdrücke, anstatt es zu fühlen.

ich hoffe allerdings, dass das Worte finden für mein Erleben mir helfen wird, mir mit mehr Verständnis und Selbstmitgefühl zu begegnen und diese unbewußt ablaufenden Prozesse in meinem Inneren besser zu beobachten.

und ihr dürft dabei vielleicht manchmal „mäuschen spielen“ oder bei dem, was mich da so beschäftigt in eurem eigenen Universum und in eurer eigenen Ver-rückten fremden Welt mitsurfen, wie das in einem anderen Therapiesetting mal genannt wurde.

Ausserdem glaube ich, dass es für viele Menschen wichtig sein könnte, diese Zusammenhänge zwischen unseren frühkindlichen Erfahrungen, unserem Körpergedächtnis und unserem späteren Verhalten oder unseren Überlebensmustern überhaupt mal zu verstehen oder wahrzunehmen. und als Pfarrerin darf ich da ja vielleicht ein gewisses Sendungsbewußtsein haben. Denn dieser ganze Weg hat für mich auch total viel Mit Vertrauen ins Leben, in Gott und der Fähigkeit Hier und Jetzt dem zu begegnen, was JETZT dran ist, anstatt in unseren Vergangenheitserzählungen oder Zukunftsphantasien- oder wahlweise -ängsten aus der Gegenwart zu verschwinden. und ich hoffe sehr darauf, dass ich hier Befreiung und Auferstehung aus den selbstgewählten (zumindestens Heute, denn damals ging es nicht anders) Lähmungen und alltäglichen Toden erfahren werde. ich wünsch mir eine gute Reise. und Euch auch, falls Ihr dabei bleiben wollt.

Kwa Heri – das suaheli Auf Wiedersehen heißt übrigens „zum Glück/Segen“

Carmikahindo