kurudi mwanzo – Zurück an den Anfang

kurudi mwanzo – Zurück an den Anfang

1. November 2024 4 Von Carmikahindo

Ich tue mich etwas schwer damit, den Prozess den ich hier durchlebe, wirklich zu beschreiben. Es ist eine heftige Reise, ich begegne meiner Vergangenheit und den Sehnsüchten und Gefühlen aus früheren Lebensphasen, ich begegne meinen jetzigen Mustern im Kontakt mit den Menschen in meiner Therapiegruppe, ich begegne meinem Essverhalten und meinen Kommunikationsmustern.

Davon ist oft jede Menge gleichzeitig da. Und ich spüre, dass ich nicht zu früh davon erzählen darf, weil ich sonst das tiefe Fühlen umgehe. Und das ist der Baustein, von dem ich tief überzeugt bin, dass ich ihn brauche, um mein Verhalten nachhaltig und grundsätzlich zu ändern. Tiefes fühlen bis in meiner körperzellen hinein, weil ich sonst dem aufsitze, was mir mein Kopf erzählt. Und das hat in allen bisherigen Versuchen nicht wirklich funktioniert.

Meine Essstörung ist – so wie die Essstörung meiner Mit-Patient*innen, zutiefst individuell mit meiner Biografie verknüpft. Ich bin weder eine klassische  Binge-eaterin mit Ess- Anfällen, noch eine daueresserin im üblichen Sinn. Es ist eher so, dass ich zu allen Mahlzeiten zu viel esse, die Portionsgröße und die Kaloriendichte sind zu hoch. Mein besonderes Suchtmittel ist Mayonnaise, die ich zu vielen Gerichten dazu esse. Gleichzeitig kann ich unglaublich viel über Essen nachdenken, mich mit Essen beschäftigen, viel einkaufen,  viel zubereiten, gut kochen und nicht nur dann essen, wenn es mir schlecht geht sondern auch wenn es mir gut geht oder wenn ich mit Leuten zusammen bin oder wenn ich andere zu mir einlade, das Essen spielt immer eine wichtige Rolle. Und mein Mann sagt es wäre total komisch dass wir in meiner Familie beim Essen vor allem übers Essen reden. In Phasen,  wo ich abnehmen wollte und deswegen fettarm und kalorienarm gegessen habe, spürte ich einen richtigen Hunger nach Fett. In den letzten Wochen und Monaten, bevor ich in die Klinik gegangen bin, ist mir deutlich geworden dass Essen dann für mich befriedigend ist, wenn es auf eine ganz bestimmte Weise durch meinen Gaumen rutscht beim Schlucken. Da ist das natürlich immer nur ganz kurz und das macht es sehr schwer dieses angenehme und beruhigende Gefühl länger zu halten. Da ist die Gier nach mehr ja sogar irgendwie verständlich.

Eines meiner Forschungsexperimente ist, ab und zu den Abendkakao aus der Babyflasche zu trinken… das innere Kind ist entzückt… gleichzeitig gibt es dann auch ab und zu einfach Wasser aus der Nuckelflasche und außerdem versuche ich, auch Spazierengehen als positives Tun zu etablieren…

Auf meinem bisherigen Forschungsweg der letzten 25 Jahre habe ich mir viele Gedanken über mein Leben und meine Geschichte gemacht. Ich habe viel verstanden und für vieles in mir Verständnis gefunden. Das hat manchen inneren Druck entlastet, den ich gespürt habe. Doch bisher hat nichts dazu geführt, dass ich mein Essverhalten nachhaltig regulieren kann. Ich glaube das liegt daran, dass der Ursprung so früh in meinem Leben liegt.

Als ich auf die Welt kam, war es gerade modern, Kinder eher mit der Flasche aufzuziehen. Gleichzeitig gingen immer noch die alten Erziehungsmythen (die auch von den Nazis propagiert wurden) herum, dass man sich nicht zu sehr nach dem Willen des Kindes richten sollte und am besten regelmäßig nach der Uhr füttert. Ich weiß, dass meine Eltern das Beste für mich tun wollten. Doch ich vermute einfach mal, dass die Babyflaschen der frühen 70er noch nicht so geformt waren, das die Arbeit des Babys an der mutterbrust, um satt zu werden, genauso im Blick war wie heute. Es ging darum, dass das Baby regelmäßig satt wird. Orientierung an den Bedürfnissen des Säuglings war damals noch nicht in gleichem Maße im Blick. Es gab ja sogar Theorien darüber, dass Babys eh noch nicht so viel fühlen. Und Schmerzen im Babyalter auch gar nicht so schlimm sind, weil man sich eh nicht dran erinnert. Wer sich zu sehr nach dem Bedürfnissen des Kindes richtet, riskiert es zu verzärteln und sich von dem Kind auf der Nase rumtanzen zu lassen. Wenn man sich das heute mit der Brille der modernen Bindungsforschung anguckt, war damals das Potenzial, Kinder früh durch diese Erziehungsmethoden zu schädigen,  ganz schön hoch.

Ich vermute, dass ich damals schon überdurchschnittlich feinfühlig war. Und dass meine Bezugspersonen mich gut versorgen wollten, aber nicht  in der Lage waren, sich emotional wirklich auf mich und meine Bedürfnisse einzustimmen und einzuschwingen. Das ist, wie ich heute weiß, aber die lebensphase, in dem  kleine Menschen mit ihrem noch unfertigen Gehirn und Nervensystem die Selbstregulation normalerweise durch Coregulation lernen müssen. Da ist ein Säugling und Kleinkind 100%ig abhängig, damit es sich gesund entwickelt. Wenn aber nun Mama und Papa so viel eigene Themen haben, mit denen sie emotional kämpfen und selbst deshalb nicht sehr resonanzfähig sind, dann kann das sein dass so ein Baby nicht gut lernt, das seine Bedürfnisse gesehen und befriedigt werden. Dann lernt es nicht den normalen Zyklus von Aufregung und Entspannung, von emotionaler Aufladung und Entladung. Je nachdem, was ein Kind dann erlebt, kann es sein, dass sehr früh ein tiefes Erleben von Hilflosigkeit in einem kleinen Menschen entsteht, auf den er dann mit Wut oder Traurigkeit, mit Erstarrung oder Resignation reagiert. Und dafür muss noch nicht mal was schlimmes passieren, das man von außen nachvollziehen kann. Denn die Verletzung , bzw das Trauma entsteht im Erleben und nicht in den Ereignissen an sich. Ich habe mich so lange gefragt, was denn wohl Schlimmes passiert sein muss, dass ich so geworden bin wie ich bin. Es war aber gar nichts besonderes, ich wurde nicht geschlagen, nicht körperlich vernachlässigt oder bin verwahrlost, mir hat doch keiner wissentlich was Böses getan. Und trotzdem hat das, was ich erlebt habe, eine so lang anhaltende Wirkung, dass ich heute mit 52 immer noch an den Folgen rumdoktore.

Und ich vermute, dass neben dem Rhythmus auch das rechtes Maß schon von Anfang an schwierig war. Wer nach der Uhr gefüttert wird, kann unter Umständen gar nicht so richtig abschätzen, wann Hunger und Sättiung für ihn oder sie fühlbar werden, Und wenn das nicht ganz körperlich gelernt und erfahren wird, ist es sowohl körperlich als auch in ganz anderen Zusammenhängen gar nicht so einfach, die richtige Dosis zu spüren. Wann habe ich genug? Wann signalisiert mein Körper, dass er bekommen hat, was er braucht? und wann ist ein Impuls ausreichend, um Befriedigung oder Beruhigung oder Entspannung zu erleben? Diese Regulation lernt ein Kleinkind in der Interaktion mit den nächsten Bezugspersonen. Sie sind für eine gesunde Entwicklung unabdingbar. und ich denke, dass ich an diesem Punkt einfach nicht wirklich gelernt habe, Hunger und Sättigung zu regulieren, aber auch Aufregung und Entspannung. Und da die frühen Erfahrungen in den Körper eingeschrieben sind und sozusagen mit eingehen in die Grundprogrammierung, wie wir unser Leben angehen und gestalten, ist das echt eine ganz schöne Herausforderung für mich, das heute als Erwachsene auch Erwachsen zu reguieren.

Die Verhaltenstherapeuten, die ja auch viel hier am Konzept der Klinik mitgestalten sagen mir, dass ich das ja aber dennoch heute aus dem inneren Erwachsenen heraus regulieren kann und die Wahl habe. Das stimmt und gleichzeitig glaube ich, dass diese Impulse aus dem Inneren, die das autonome Nervensystem (ANS) so früh einprogrammiert hat, echt nicht so leicht zu überschreiben sind. denn das ANS ist ein feines Instrument, das schon vor meiner bewußten Wahrnehmung registriert ob es irgend etwas bedrohlich findet und dann die gespeicherten Programme abspult. Sei Du mal schneller als Dein Inneres Erleben,.. Doch wenn ich es merke, gibt es die winzige Chance, das gewohnte Muster zu unterbrechen und zu verändern. Ist halt eine mühsame und langsame Arbeit. aber möglich. Doch es braucht Geduld und Verständnis – vor allem mit mir selbst.

Wenn der Gaumen sagt, „wenn hier das richtige Essen durchgeht, fühle ich mich sicher“, dann wird der Mensch in seinen unbewußten Mustern auch später dazu neigen, sich über mehr Essen gefühlt mehr Sicherheit einzuverleiben. Außerdem scheint mir, dass ich eine hohe Intensität an Reizen immer wieder suche. Egal, ob es sich um (Ge)würze im Essen, Emotionen in Begegnungen oder Erregung in der Sexualität dreht. Es gibt fast schon eine Gier nach mehr, nach tieferen Erfahrungen, nach volleren Geschmackserlebnissen, nach tieferer Verbindung. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass meine eigene Wahrnehmung für die Freude an den leiseren Tönen, den zarten Regungen und den mittelprächtigen Erfahrungen oft gar nicht von mir selbst genossen und wertgeschätzt werden kann, weil gleichzeitig ja innerlich auch ein Bewertungsprogramm abläuft, dass dann „Viel“ und „Intensiv“ als die Norm setzt und alles andere dagegen eher abwertet.

Und ich gehöre peinlicherweise auch zu den Leuten, die ihr Essen gern fotografieren und sich an den ästhetischen Bildern freuen. Eine Freundin sagte mir jetzt in dem Zusammenhang zu meinen selbstkreirten schönen Tellern: „Andere Leute malen ein Bild, Du malst ein Essen“ und da ist wohl manchmal was dran. Dieser Teller stammt allerdings aus einem Restaurant bei Montpellier aus dem letzten Urlaub im September (La Chapelle in Villeneuve-les Maguelones)

Ich habe den Eindruck, dass eine meiner frühesten  Erfahrungen ist, dass ich mit Nahrung versorgt werde, aber ansonsten nicht viel Raum für liebevolle Verbindung da war, weil die Geschichten meiner Eltern auch für sie sehr viel Schmerz und Einschränkung bedeutet haben. Sie haben die traumatischen Erfahrungen ihrer Vergangenheit in ihrem Familien überlebt,  indem sie das verdrängt haben und ihre eigene emotionale Welt möglichst klein gehalten haben. Als Erwachsene kann ich das sehen und auch Mitgefühl mit ihnen haben, aber ich habe auch Mitgefühl mit dem Baby, das hauptsächlich über Essen Liebe erfahren hat. Und diese Grundprägung bis heute in sich trägt. Von da ausgehend war in unserem Familienleben der gemeinsame Esstisch immer der wichtigste Ort. Wir konnten oft nicht miteinander sprechen, aber immer miteinander essen. Kein Wunder, dass in meinem Leben Essen so wichtig geworden ist. (Ich habe ja sogar einen Mann aus Essen geheiratet, kleiner Scherz😉)

Osterfrühstück, ich vermute, als ich 6 oder 7 war.

Ich bin meiner Familie zutiefst dankbar, dass zumindestens körperliche Nähe immer möglich war, wo uns die Worte fehlten. Ich glaube das war ganz wichtig für mein Überleben, dass ich die Fähigkeit zu körperlicher Nähe auch früh erworben habe und diese Form von Liebe ebenfalls kennenlernen durfte.

Was ein Mensch ganz früh von seinen ersten Bezugspersonen lernt, ist auch die Art und Weise, wie man mit Gefühlen umgeht. und da glaube ich, dass die Afrikanische Weisheit, dass ein Dorf ein Kind erzieht und nicht eine Person, eine große Chance bietet. So ein afrikanisches Baby und Kleinkind wird immer in Gemeinschaft sein. Es wird immer von Menschen mit viel Körperkontakt (gerade, weil die Babies ja oft auf dem Rücken getragen werden) Coreguliert. Und weil das eben nicht nur allein die Mutter ist, sondern unter Umständen auch mal die Oma und die Tante, mehrere ältere Geschwister und die adoleszente Tochter der Nachbarn ist, lernt so ein Baby von vielen Nervensystemen, wie man mit Emotionen umgeht. Da lernt es vermutlich auch „nur“ die kulturell erlaubten und ausgelebten Gefühle, aber die in einer Variationsbreite von menschlichen Reaktionsmöglichkeiten, die eine Deutsche Kleinfamiliensituation, vielleicht sogar noch in der Einkindfamilie überhaupt nicht hergibt.

Ich glaube, dass gerade meine Mutter es nicht leicht in dem Haushalt meiner Kindheit hatte. Mein Großvater väterlicherseits war mit Rommel in Afrika gewesen. Über diese Lebenserfahrung hat er nie gesprochen und mir das nur ein einziges Mal kurz vor seinem Tod in einem Satz gesagt, als ich im Frühjahr 1994 meinen Aufenthalt im Kongo (Damals noch Zaire) vorbereitete. „Ich war ja auch mal in Afrika“. Full Stop. Und da ich mit meinem Opa zumindest nach der frühen Kindheit auch keine innige Beziehung hatte, hab ich da damals nicht nachgefragt und erst Jahre später von einer meiner Tanten erfahren, dass Opa als ziemliches psychisches Wrack aus dem Krieg zurückgekehrt ist, Nach Afrika wohl auch noch an der Ostfront war und das ganze nie verarbeitet hat. PTBS bevor man überhaupt eine Ahnung davon hatte, was Trauma bedeutet. meine Tante erzählt, dass manchmal der Arzt kommen musste und ihm eine Beruhigungsspritze verpassen, als sie klein war, Mein Vater, erstgeborener und einziger Sohn ist 1939 geboren, Er hat seinen Vater also so richtig erst nach dem Krieg kennengelernt. Ein traumatisierter Fremder, der dem 6 jährigen sicher auch eine große Herausforderung war.

in meiner Kindheit war er ein wortkarger, recht abweisend wirkender Patriarch. Sehr katholisch und auch ganz schön grimmig. Und seine Frau, meine Oma Gertrud hat sich in depressives Aus dem Fenster starren und Klosterfrau Melissengeist gerettet. An sie habe ich kaum Erinnerungen, sie starb, als ich 11 war.

Meine Mutter war in diesem Haus die unerwünschte evangelische Schwiegertochter. und ich glaube, um dies auszuhalten, diese durchaus toxische harte Stimmung in diesem Doppelhaushalt (zwei nicht wirklich abgeschlossene Wohnungen im gleichen Haus), hat sie spätestens da – als ich auf die Welt kam, war sie schon fast 5 Jahre in dieser Atmosphäre ausgehalten – entschieden, dass es besser ist, nur sehr wenig zu fühlen. weil es so viel schwere und tiefe und negative Gefühle gab, dass alles andere unerträglich gewesen wäre.

Das war dann eine ungünstige Kombi für ein Baby voller Feinfühligkeit. ich bin immer noch unsicher, ob meine Hochsensibilität eher eine Folge der Traumaerfahrung ist und der hohen inneren „Alarmierung“, da ja babies generell ohne Filter sehr viel Fühlen. oder ob es einerseits da dieses besonders sensible Baby gab, dass in einer emotional sehr unterdrückten Umgebung diese ganze innere Welt gar nicht mit irgendwem teilen konnte, weil alle anderen Bezugspersonen so damit beschäftigt waren, die Gefühle am besten ganz wegzudrücken.

Auf jeden Fall war ich ein Baby, dass schon ganz früh eine riesige Diskrepanz zwischen innerem Erleben und der Reaktionsfähigkeit der Außenwelt erlebt hat. Und während ich das schreibe, fällt mir auf, dass meine heute noch vorhandene Angst, mich in der Intensität meiner Kraft und Äußerungen und Emotionen anderen zuzumuten, schon da angelegt zu sein scheint. Wie einsam muss das Baby manchmal gewesen sein. und wie schwer, dass diejenigen, die für mich zuständig waren, ihre eigene Schwingfähigkeit so runterregulieren mussten, um in diesem toxischen Umfeld zu überleben, dass sie gar nicht wirklich sehen konnten, wie viel Lebendigkeit und Lebensfreude in dieser kleinen Carmen gesteckt hat.