Mawazo ja Alfajiri –  Morgendämmerungsgedanken zum Thema „Noch zu früh“

Mawazo ja Alfajiri –  Morgendämmerungsgedanken zum Thema „Noch zu früh“

15. November 2023 0 Von Carmikahindo

Eine Schreibübung für die Uni Hamburg

Erst ist es einer. Dann antworten ein paar in der Ferne. Während die Sterne langsam verblassen, tauchen zart erste Wolken am Himmel auf. Die Kamera sieht nur schwarz, doch meine nachtmüden Augen machen langsam erste Unterschiede aus. Noch zirpen ein paar nächtliche Geckos. Doch schon beginnen die ersten Vögel zögernd ihr Lied. Als wüssten sie genau, dass der Tag kommt.

Die Hühnermänner schreien ihr Wissen unverdrossen in die Nacht: der Morgen ist nah. Noch sieht keiner den Ol´Lengai, den heiligen Berg. Die Steppe schweigt. In den Bomas Nachtgeräusche: ein schnaufender Ziegenseufzer, eine leise Kuhglocke. Und irgendwo schnarcht ein Mensch.

Mitten im Dunkel lauscht meine Seele dem Leben. Leise ist es hier. Aber eindringlich. Als sagte es immer wieder: ich bin hier. In all meiner Pracht und Vielfalt.

Ein großer Tausendfüßler huscht über den Hausstein aus gelbgoldenem Tangastone. Ob zwischen den Dornen der Skorpion weiter jagt? Wenn er mir zu nah kommt, werde ich ihm den Kopf zertreten. So ist der Plan. Mal sehen, ob ich mich traue.

Die Moskitos scheinen Pause zu machen. Aber vielleicht warten sie auf das Licht, um sich wieder auf mich zu stürzen. Abenddämmerung oder Morgendämmerung? Ist uns doch egal. Wir trinken Dein Blut, um unser Leben weiter zu geben. In den noch unversickerten Pfützen des letzten Regens gehen wir in den Wettlauf mit Schwester Sonne. Gib uns Dein Blut, damit wir leben können, scheinen sie an mein Ohr zu summen. Aber noch nicht jetzt. Es gibt einen kurzen Waffenstillstand zwischen uns.

Ach ja, der Regen. Er hat endlich die Steppe geküsst und das Leben geweckt. In reißenden Bächen, wo sonst erodierte Erde liegt. Und in Matsch statt Staub auf der Straße. Doch er ist Segen. Und überall sprießt es aus der graubraunen Erde. Ein Hoffnungszeichen. Wie die Bäumlinge und Grashalmspitzen überall. Der erste Regen hat Hoffnung gebracht. So lange warten  sie hier auf ihn. Es nützt nichts, dass das Handy Empfang hat, wenn doch die Kühe vor Dürre verenden. Wenn das Land braun ist und trocken und die Haut der Menschen aussieht wie schwarzes zerknittertes Papier. Dann heißt kein Wasser – keine Milch-  kein Leben.

Sie sind viele. Und  viele sind jung. Wer teilt ihre Träume? Im Holzrauch des Kochfeuers sitzen sie zwischen den Welten. Vielleicht fragen sie sich: Werde ich Hirte, wie mein Vater? Oder lässt er mich zur Schule gehen, damit ich die Wahl habe, wie ich leben möchte? Könnte ich von hier fort? Will ich es denn überhaupt? Das Land ist mir in den Leib tätowiert, ich will ein Krieger werden und eine Familie. Und ich will gut leben, vielleicht doch anders als meine Väter. Sie erzählen mir von Gott und seinem Kind Jesus. Das ist so anders, als wir bisher Gott verstehen. Es öffnet mir Möglichkeiten, anders zu sein. Aber kann und will ich das für mein Leben? Ich sehe und höre so viel. Manches weckt Wünsche.

Auch hier ist inzwischen vieles anders als früher. Häuser mit Blechdach im Ort. Läden und der große Sendemast. Und hier und da sogar Licht in den Nächten, das durch die Leitungen in der Steppe zu uns strömt. Und gleichzeitig kaum Geld, um das „moderne Leben“ zu teilen. Es gibt nicht viel zu kaufen. Aber so vieles weckt Begehrlichkeiten. Die Veränderungen sind rasend schnell und unendlich langsam. Wie werden die Jungen und Mädchen ihr Leben bauen? In den Unsicherheiten zwischen den Welten.  

Wenn ich Weißnase in die Schule gehe, bin ich im Nu von den Mädchen umringt. Für sie ist die Schule eine echte Chance. Ein Leben haben. Selbst entscheiden. Etwas lernen und wählen dürfen. Sie greifen in mein Haar, berühren verstohlen meine helle Haut. „Wie viel kostet ein Ticket nach Europa?“ „Hast Du Kinder?“  „Nein, leider nicht“ „ Oh, Pole sana! Warum nicht?“ „ich könnte doch Dein Kind sein.“

„Werden die Kinder bei Euch im Weißnasenland in der Schule geschlagen? Und schlägt eine Mutter ihre Kinder?“  „Nein, das ist bei uns verboten. Und wer das macht, wird bestraft, wenn man ihn erwischt.“ Staunende Augen und ungläubige Blicke. Als wäre die Vorstellung, dass das klappen könnte, einfach überhaupt nicht mit ihren Erfahrungen vereinbar.

Was haben sie schon erlebt, diese Mädchen der Steppe? Welche Geschichte, welche Verletzungen tragen sie mit sich herum? Und können sie hier, an diesem Entwicklungsort neue Träume träumen? Oder ist die Schule nur ein kleines Intermezzo, bevor der Onkel sie gegen den Brautpreis an eine andere Familie verkauft, wo sie dann kochen und Kinder kriegen und ihren Männern zu Willen sein müssen? Was passiert mit ihnen, wenn sie diesen Ort verlassen? Lässt ihr Hunger nach Leben sie fortgehen? In die großen Orte, vielleicht sogar in die Stadt, wo sie dann Lehrerin, Sozialarbeiterin oder Krankenschwester werden können? Und was heißt das für ihre familiäre Verbindung? Gehen sie allein? Oder mit dem Segen ihrer Väter und Mütter?  Jetzt schreiben sie erstmal ihre Prüfungen. Ein Polizist mit Maschinengewehr passt auf, dass sie nicht pfuschen und niemand die Prüfungsaufgaben stiehlt. Wie gehen diese jungen Menschen mit ihren Ängsten um? Reicht das von vorne gepredigte und im Chor wiederholte „Usiogope“ –  „Fürchte Dich nicht“ denn aus,  um mit der Sorge in ihren Herzen umzugehen? Sind sie gewappnet? Für die Prüfungen und Entscheidungen ihrer Leben? Welchen Preis werden sie für ihre Träume zahlen müssen? Und wie viele von ihnen fühlen sich falsch, wenn sie doch die Angst in ihren Herzen sitzen haben? Ich wünsch ihnen den Mut, mit der Angst die nächsten Schritte zu gehen. Aber vielleicht ist ja auch das viel zu fremd, um in und bei ihnen anzukommen?

Was weiß ich schon, ich vielwissende weißnasige Mzungu Frau? Mein Leben ist doch Lichtjahre von ihrem entfernt. Und unser Kontakt bleibt allenfalls ein zarter Kratzer an der  Oberfläche der Fülle und Vielfalt ihres so fremden Kosmos. So wie sie auch bei mir nur die Hülle sehen und ihre Sehnsüchte darauf projizieren. Die vielen Vorurteile helfen nicht, selbst wenn sie mir alle möglichen Fähigkeiten und Reichtum und Schönheit andichten. Wobei, es stimmt ja aus ihrer Perspektive. Sie sehen die Möglichkeiten des Weissnasenlebens. Die Bildung, das „einfache Leben“ das Geld, das Reisen in fremde Länder ermöglicht.

Sie sehen vielleicht manchmal die Touristen, die nicht dicht gedrängt auf der Ladefläche eines LKW reisen, sondern bequem in Safari Autos durch die Steppe kutschiert werden. Sie verstehen nichts von der Komplexität des Mzungulebens. Von den Nöten, die zwar meist nicht um das täglich Brot bangen, aber die Seelen umso mehr gefangen halten. Von den Geistern, die unsere Seelen quälen, die sich manchmal in der Fülle der Wahlmöglichkeiten verlieren. Und dann genauso unsicher sind, wie sie selbst. Nur etwas anders. In dieser Fremdheit  müssen die Vorurteile ja wachsen wie die Bäumlinge nach dem Regen.

Doch ich schweife ab. Die Nacht ist verblasst. Die Tauben erzählen sich – wer weiß schon wovon. Nala die Hündin bellt lautstark in den grauen Morgen. Ob sie einen Fremden gesehen hat? Sie bewacht das Grundstück, gemeinsam mit dem schlafenden Nachtwächter. Gut, dass sie da ist, auch wenn sie meinen leichten Schlaf gestört hat.

Die Vögel sind inzwischen immer lauter geworden. Der Tag ist da. Markttag in Malambo. Vermutlich sind die Marktleute schon vor Stunden aufgebrochen, um ihre Waren heute an den Menschen zu bringen. Bunt wird es sein. Und laut. Als versicherten sich die Menschen ihrer Lebendigkeit durch ihre pure Präsenz. Als versicherten sie sich ihres Lebens durch Lachen und Schwatzen. Denn die Steppe kann tödlich sein. Und unendlich schön. Hier im Massai-Land.

Es gibt das Hier und das Jetzt. Was später kommt? Wer weiß das schon. Wie es werden wird? Ach Gott, wer könnte das voraussagen. Denn immer gibt es im Jetzt und hier etwas zu regeln, zu sehen und zu sagen. Immer gibt es einen Menschen, der etwas braucht. Und wie wir uns entscheiden? Dass wissen wir dann, wenn wir es getan haben. Oder auch nicht. Es ist eindeutig noch zu früh, um zu sagen, wohin die Reise weitergeht.