
Kuagana ni chungu – der Abschied von Lucy Bäckerin
Ich schätze, sie ist so 15 oder 16. Zuerst hab ich sie vor ein paar Wochen wahrgenommen, als sich aus der uniformen Masse der Schüler und Schülerinnen langsam erste Gesichter und Persönlichkeiten zeigten. Die scheue junge Gehörlose mit dem weißen Fleck auf der Stirn, der Junge, der immer so schreit, sich aber total freut, mich zu sehen und mich mit breitem Sabbergrinzen und Handschlag begrüßt und eben Lucy. Fröhlich, mutig, herausfordernd und überhaupt nicht kontaktscheu.
Ich bin an dem Abend aus Moshi zurückgekommen, von meinem ersten Besuch im Seelsorgeinstitut. Auf dem Weg zu meinem Häuschen geh ich wie meistens mitten durch das Zentrum. Die Schüler und Berufsschüler warten aufs Abendessen.
Und da ist Lucy, spricht mich an, fragt nach meinem Befinden. Als ich erzähle, dass ich gerade aus Moshi komme, strahlt sie über das ganze Gesicht: „Moshi? Da wohnt meine Familie. Du warst in Moshi, das ist toll. Ich fahr da auch bald hin, wenn die Prüfungen vorbei sind“ Sie grinst mich fröhlich an.
Sie ist laut, lebendig und im besten Sinn unverschämt. Die Lebensfreude sprudelt aus allen ihren Poren. Ich erfahre an diesem Tag ihren Namen. Und weiß jetzt, wo sie herkommt.
Sie hat keine Scheu vor mir Weißnase, begrüßt mich regelmäßig froh und laut, wenn wir uns begegnen. Die anderen Schüler trauen sich das nicht so. Der ihnen so oft eingebläute Respekt vor Erwachsenen, vor Weißnasen und vor Pfarrern insbesondere macht es gar nicht so einfach, dass sie auf mich zukommen.
Ich merke, wie ich mich auf die Begegnungen freue. Klar, es ist oft nur ein bißchen Smalltalk. Aber es entsteht ein Kontakt, der mich in meiner Lebendigkeit stärkt und bei mir den Eindruck weckt, dass auch Lucies Freude echt ist.
Ich weiß inzwischen, dass sie in einer der Berufsschulklassen ist, dass sie bei den Bäckern den einjährigen Kurs macht. Aber eigentlich reden wir da gar nicht groß drüber. Mehr über Moshi, die schöne Stadt am Fuß des Kilimanjaro, grün und weitläufig.
Dann kommt der Tag der Abschlussfeier. Es ist wie so oft, mir wurde erzählt, es geht um 9 Uhr los und um 13 Uhr ist es vorbei. Die Klasse der Sekundarschule, die zweijährige Sonderschule für die Geistig Behinderten und die Berufsschule haben eine gemeinsame Feier. Doch schon am frühen morgen ist klar: es regnet. Und zwar heftige Bindfäden. Und wie immer ist alles anders. Wer von außen anreist, hat es schwer, anzukommen. Die Zertifikate der Schüler müssen noch geschrieben und ausgedruckt werden, erzählt mir Nico, der deutsche Volunteer. Nur der Drucker streikt leider…
So beginnt alles dann so gegen 10 erstmal mit einem ausgiebigen Frühstück. Es gibt Maniok mit Soße und Fleisch, Fettgebackenes und gekochte Eier zum Tee… für die Gäste und das Personal. Die Schüler bekommen ihr Frühstück und die Talare, die sie als erfolgreiche Absolventen auszeichnen.
Lucy hat sich die Haare flechten lassen. Wie ein paar der anderen Mädels trägt sie einen Knoten aus Rastas, der aussieht wie ein zweiter Kopf. Sie ist wie alle sichtlich aufgeregt. Der Regen kann ihr nichts anhaben.
Die Feier beginnt, auch wenn kaum auswärtige Gäste da sind. Es werden Dankesreden gesprochen und in einer komplizierten Abfolge Geschenke ausgetauscht. Die Schüler bekommen Geschenke und schütteln Hände, die Lehrer werden von den Schülern beschenkt. Es wird viel gejubelt. Und zwischendurch tritt immer mal wieder eine Gruppe auf und singt. Oder die Pfadfinder, die sogar eine Feuershow darbieten.

Die ganze Zeit rauscht dabei der Regen auf das Blechdach. Doch es tut der Freude keinen Abbruch.
Als die Geschenke verteilt sind, die Zertifikate an den Mensch gebracht und der Ehrengast gebührend begrüßt – eigentlich wollte der Bischof kommen, aber eine Beerdigung im Familienkreis hat das verhindert – gibt es irgendwann dann den informellen Teil.

Einige werden noch morgen abreisen. Anderen stehen jetzt die Prüfungen bevor. Denn das ist wohl in Tansania überall so: es gibt die Abschlussfeier und das „Bestanden“ Zeugnis VOR den Abschlussprüfungen. Also noch mindestens zwei Wochen wird nun gearbeitet und geprüft, in der Sekundarschule sogar von Polizisten mit Gewehren bewacht, damit niemand schummelt.
Der Regen lässt langsam nach. Ich laufe am späten Nachmittag nochmal über das Gelände, überall stehen glücksbesoffene Schüler, feiern sich und das Leben. Alle sind schick, es werden Fotos gemacht. Ich bedaure das graue Wetter, aber selbst das kann die Stimmung nicht trüben. Wozu gibt es schließlich Fotobearbeitungsprogramme.

Lucy ist überschwänglich. Ich darf – nein eigentlich muss ich sie und ihre Freunde fotografieren.
Sie sprudelt über und erzählt von dem Tag. Und dass ja jetzt noch die Prüfungen kommen. „und, wirst Du das schaffen?“ frage ich sie. „Klaar“ Ihr Strahlen wird keinen Moment geringer.

Bei unserer nächsten Begegnung fragt sie mich, wann sie ein Geschenk kriegt. Ich bin baff, das ist schon sehr direkt. Und ich sag ihr direkt „ach Lucy, ihr seid so viele, ich kann Euch doch keine Geschenke machen.“
Aber die Frage bleibt hängen. So schaue ich bei meinem nächsten Besuch im Supermarkt danach, womit ich so viele Leute beschenken könnte. Und finde einen Beutel mit vielen Schokopralinen. Und auch die werden nicht reichen. Dann müssen sie halt teilen.
Die Prüfungszeit läuft. Doch die Schüler und Schülerinnen sehe ich nicht mit großen Ängsten herumlaufen. Es scheint, als wären sie gut vorbereitet worden.
Es naht der letzte Prüfungstag. So versunken, wie ich in meine vielen Erlebnisse bin, hab ich das auch wieder nicht mitgekriegt. Stattdessen hab ich am Vortag meine Sauerteigbrote in die Bäckerei gebracht, damit sie nachts im großen Ofen gebacken werden können. Rosy, die Lehrerin packt sie in den Kühlschrank und will dem Bäckermeister Bescheid geben.
Als ich morgens sehr früh wachwerde, entschließe ich mich zu einem Neugierbesuch bei Godlove dem Oberbäcker, um zu sehen, ob das Brot im großen Ofen was geworden ist.
Tja, und muss feststellen, dass die Teiglinge immer noch im viel zu kalt eingestellten Kühlschrank liegen, weil Godlove nix wusste…
Aber es ist ja noch Zeit bis zum Morgen. Und Strom gibt es auch. Also lässt er die Teiglinge warmwerden und wird sie noch backen. Ich darf um 7 wiederkommen. Denn heute müssen sie sowieso die Bäckerei ordentlich putzen für die praktische Abschlussprüfung.
Das Brot kommt wunderschön aus dem Ofen. Wie gemalt. Und die Bäckerei strahlt für die Prüfung.




Ich verkrümel mich mit meinen heißen Brotlaiben und wünsche noch viel Erfolg.
Mittags, das Brot ist kalt und anschneidbar, mache eine Probierrunde mit meinem Brotkörbchen. In der Bäckerei sind die Prüfungen vorbei. Auf jedem Tisch stehen sehr hübsche frisch gebackene Köstlichkeiten, die jeder Prüfling allein zubereiten und präsentieren musste. Ich lasse mein Brot verkosten und koste von den Schokoküchlein. Mmmh – die können was.

Die Bäckerlehrlinge sitzen gelöst um Rosy herum, reden und schnattern sich die Anspannung aus dem Leib. Lucy sitzt dabei. Ihr Lächeln ist heute ziemlich gequält. Ihr strahlender Blick ist von Traurigkeit umwölkt. Morgen wird sie heimfahren. Nach Moshi. Zu ihrer Familie, die sie im letzten Jahr wohl nur ganz selten getroffen hat. 60km sind weit, auch wenn die Straße geteert ist. Man braucht Geld, um zu reisen. Und das fehlt den meisten hier.

Ich nehme mir vor, am Abend nochmal zur Essenszeit im Speiseraum vorbeizuschauen. Schließlich gibt es noch die Schokolade als kleine Abschiedsgeste.

Und mir wird klar, dass ich für Lucy etwas tun möchte. Ein Geschenk zur Erinnerung . Kumbukumbu. Ich habe wohlweislich Material zum Schmuckbasteln mitgebracht. Und so male und schneide ich, bis ich einen Anhänger gestaltet habe: Lucy Mwokaji – Lucy Bäckerin steht darauf.
Es wird Abend. Die Landschaft steht im satten Grün der afrikanischen Regenzeit. Das Leben leuchtet. Die Schüler freuen sich riesig über die paar Krümel Schokolade – was sind schon achthundert Gramm für über 70 Jugendliche… Aber Lucy ist nicht da.
Draußen steht sie dann. Doch sie ist nicht da. Ihr Lächeln und ihre Freude sind fort. Mitten in dieser lebendigen Landschaft scheint es, als wären Herbststürme durch ihr Gesicht gefahren und hätten die Blätter von den Bäumen fortgerissen, ja, sogar als wäre der Winter massiv eingebrochen und habe das Leben erstarren lassen.

Ich geh auf sie zu: „Herzlichen Glückwunsch zur Prüfung und mein tiefes Mitgefühl zum Abschied“ Sie schaut mich aus schmerztiefen Augen an „es ist so bitter“ „ja“ antworte ich, „es tut weh, wenn man die lieben Menschen verlassen muss und nicht weiß, wie es weiter geht“ in meinem Herzen schwingt die Schwere ihres Leids. „ich hab ein Geschenk für Dich, damit Du Dich an mich erinnerst“ sie schaut kaum auf, so sehr ist sie im Schmerz versunken. Ich leg ihr den kleinen Glasanhänger in die Hand. Lucy Mwokaji. Und ein großes Herz. Ihre Hand umschließt das Schmuckstück, ihr Gesicht bleibt starr, die Augen in eine Ferne gerichtet, in der sie allein sieht, was auf sie zukommen wird. „ich wünsche Dir allen Segen der Welt, dass Du mutig bist und fröhlich, und dass Du mit all dem, was du gelernt hast, einen guten Platz in der Welt findest. Und wenn Gott will, dann sehen wir uns wieder“ Ich lege ihr die Hand auf und lasse sie, wo sie ist, ein wenig verloren in den vielen Gefühlen, die man hier anderen nicht zumutet. Ich finde sie auch hierin so unglaublich mutig. Sie zeigt, was sie fühlt. Versteckt sich nicht. Ist auch in ihrer abwesenden Erstarrung unglaublich präsent. Und ich gehe so in Resonanz mit ihrer Unsicherheit, dass es mich innerlich zutiefst bewegt.
Wie wird es weitergehen? Was steht ihr bevor? Ist sie einfach nur ein hörgeschädigtes behindertes Mädchen, dass sich nun der Gnade und Freundlichkeit ihrer Familie ausliefern muss, oder kann sie mit Freude und Stolz ihr Leben in die Hand nehmen? Überlebt ihr unerschrockener fröhlicher Mut die Meinung der anderen? Behält sie ihr Selbstbewusstsein, wenn sie zurückkehrt in eine Umgebung, in der ein Mensch mit Behinderung als Last und Problem gesehen wird? Sie nimmt so viel mit nach Moshi, doch zugleich lässt sie so viel zurück. Die liebgewordenen Menschen, Freunde und Lehrer. Einen Ort, wo sie aufblühen durfte und wachsen. Kuagana ni chungu – Abschied nehmen ist bitter.
Ich weiß gar nicht, ob sie mich überhaupt richtig wahrnimmt. Vielleicht kann sie sich ja in ein paar Tagen über mein Geschenk freuen. in Moshi. Oder wo sie dann sein wird. Ich schau ihr noch einmal in die Augen und meine werden tränennass. Ich verabschiede mich und bin sicher, ein paar der Tränen, die ich dann auf meinem Sofa weine, gehören eigentlich Lucy.